Als Leseprobe habe ich den Prolog samt der ersten sechs Kapitel gewählt, sodass die Perspektiven der drei Protagonist:innen jeweils zweimal vorkommen. Falls ihr Feedback oder Anregungen habt oder Interesse daran, die komplette Geschichte als Testleser:in zu lesen, bitte schreibt mir unter hagengeyer@tutamail.com oder hier auf Neocities. Ein Exposé kann ich auf Nachfrage ebenfalls zur Verfügung stellen.
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„Bei jeder Unternehmung bedarf es eines Kapitalisten, der den Aufwand bestreitet, und eines Unternehmers, der die Idee hat und sie auszuführen versteht. Die Rolle des Kapitalisten spielt für die Traumbildung immer nur der unbewußte Wunsch; er gibt die psychische Energie für die Traumbildung ab; der Unternehmer ist der Tagesrest, der über die Verwendung dieses Aufwandes entscheidet.“
- Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 14. Vorlesung
Charaktere
Kapitel 00: Die Elster versteht das Konzept von Diebstahl nicht
Kapitel 01: Einsamer Geier, der über der Ebene kreist
Kapitel 02: Die Lichter der Autobahn spiegeln sich in den Augen des Rehs
Kapitel 03: Hund, der auf das Kommando "Bleib!" hört
Kapitel 04: Der Fuchs streift durch die Ruinen
Kapitel 05: Zugvogel
Kapitel 06: Zwei Katzen auf dem gleichen Zaunabschnitt
Sie ist eine katzenartige Frau. Ein mysteriöses Ereignis hat sie in einer violetten Wüste zurückgelassen und ihr ihre Erinnerungen geraubt.
Er ist auf der Suche nach drei Artefakten, um eine bestimmte Person zu finden, die ihn mit einem Fluch belegt hat. Ihm ist keine Anstrengung zu groß, um sein Leben wieder in die eigenen Hände zu nehmen.
Xe ist angestellt bei dem Unternehmen Isis KG. Eines Tages spricht ein mysteriöser Bote xen an und unterbreitet xem ein Angebot, das xes Leben für immer ändern wird.
„Die Kurve der Verteilung des Reichtums weist in unseren Gesellschaften von einer Epoche zur anderen sehr wenige Veränderungen auf. Die Form der Kurve entspringt keineswegs dem Zufall, das ist sicher. Sie hängt wahrscheinlich von der Verteilung der physiologischen und psychologischen Merkmale der Menschen ab.“
- Vilfredo Pareto
Die honigfarbenen Augen des Mädchens leuchteten auf, als sich das Schmuckstück darin spiegelte. Es schien direkt aus einem Märchenbuch gefallen zu sein, denn sie konnte eine ganz bestimmte Magie darin spüren. Es rief nach ihr wie ein Artefakt, dessen Fund am Anfang eines vielversprechenden Abenteuers lag.
"Kommst du?"
Sie wandte sich zu ihrem Vater um, der geduldig auf sie warten konnte, weil er zwischendurch auf seinem Handy die Mails checkte. Kurz verzog sie das Gesicht, obwohl sie irgendwie wusste, dass es ungerecht war. Es war nicht so, als hätte er sich das ausgesucht. Wenn er sagte, dass er viel lieber mit ihr in den Park gehen und das vor Wochen versprochene Picknick machen wollte, glaubte sie ihm, ohne zu zögern. Die leichten Runzeln, die sie vor einigen Wochen erstmals auf seiner Stirn entdeckt hatte, kamen nicht von ungefähr.
"Können wir kurz hier rein?", fragte sie trotzdem und zeigte auf die goldene Apparatur, die sie so fasziniert hatte, "Ich will mir das mal angucken."
Sein Blick folgte ihrem Finger und er musste grinsen, als er auf der schimmernden Oberfläche landete. "So eine hatte mein Opa auch."
"Eine was?"
Sie konnte sich keinen rechten Reim darauf machen. Ihre Vermutung war, dass sich ein Spiegel enthüllen würde, wenn sie den glänzenden Deckel öffnete. Aber wozu dann die Kette daran? Vielleicht handelte es sich doch eher um ein Amulett, in das mensch ein Foto stecken konnte. Vielleicht war ja sogar noch das Bild eines jungen Mannes darin, der der ehemaligen Besitzerin einst das Herz gebrochen hatte.
Sie wusste auch schon, welches sie als nächstes wählen würde: Das Selfie, das sie an ihrem letzten Geburtstag mit ihrem Vater gemacht hatte, wo sie diese lustigen Perücken trugen. Es brachte sie immer zum Lachen und sie war seitdem nie wieder in der Lage gewesen, ihr Gesicht auf diese merkwürdige Art und Weise zu verziehen. Ein wirklich einmaliger Moment.
Er hatte extra einen professionellen Maskenbildner kommen lassen, der eine Auswahl von hochqualitativen und lebensechten Perücken zur Auswahl gehabt hatte. Allerdings waren die billigen bunten viel lustiger anzusehen gewesen, sodass sie sich eine knallrote über ihr dunkelblondes Haar gezogen hatte. Ihr Vater hatte sein ergrautes Haar unter einer grünen versteckt, und die leichten Falten um seine Augen hatten sich vertieft, als er sie angelächelt hatte.
"Eine Uhr ist das, denke ich“, antwortete er mit seiner sanften Stimme, die ihr am Wochenende immer noch eine ihrer Lieblingsfabeln vorlas.
Die Glocke bimmelte, die Tür quietschte, als er sie ihr aufhielt. Sofort eilte sie unter seinem ausgestreckten Arm durch, wobei sie sich seit neuestem bücken musste, und ging zur Auslage, wo sie das Schmuckstück erspäht hatte.
Die anderen Regale, die jeden Zentimeter der Wände einnahmen, und sich unter ihrer wundersamen Last bogen, und die Vitrinen im Schaufenster und in der Mitte des dunklen Raumes nahm sie gar nicht wahr. Hier hätte sie sich eigentlich Stunden aufhalten können, ehrfürchtig die Artefakte vergangener Leben studierend und doch keine Auswahl treffen könnend – wenn sie kein klares Ziel vor Augen gehabt hätte.
Ehrfürchtig, aber zielstrebig nahm sie es in die Hand, fuhr mit den Fingerspitzen über den Deckel. Die Uhr schien uralt zu sein, denn obwohl sie augenscheinlich pfleglich behandelt worden war, hatten sich schon einige Kratzer und Macken in das Metall gegraben. Doch die Verkäuferin musste um ihren Wert wissen, denn sie hatte sie auf Hochglanz poliert und wenn das Mädchen sie im Licht der schummrigen Lampe drehte und wendete, sandte sie einen wunderschönen Glanz in alle Richtungen aus.
Mit ebenso glänzenden Augen sah sie zu ihrem schmunzelnden Vater auf, dessen Nase sich in der staubigen Luft kräuselte.
„Möchtest du die haben, mein Engel?“
„Oh ja, bitte!“
Sie wusste zwar, dass er ihr keine ihrer Bitten abschlagen konnte, doch sie wollte diese Freigiebigkeit auch nicht ausnutzen. Dieses Schmuckstück hatte sie sich allerdings verdient, immerhin hatte sie in der Schule heute den ganzen Tag gut aufgepasst und sich bei vielen Fragen gemeldet.
„Wie viel soll diese Uhr denn kosten?“, fragte er nun die unscheinbare Verkäuferin, die einen respektvollen Abstand eingehalten hatte, jederzeit bereit, einzuschreiten, wenn ihre Hilfe vonnöten sein sollte.
Sie warf einen kennerischen Blick auf den Gegenstand, den er nun so hielt, dass sie ihn ebenfalls betrachten konnte und antwortete: „Für Sie 20 Euro.“
„In Ordnung.“
Er holte einen 50-Euro-Schein aus seinem Portemonnaie, sagte „Passt schon“ und drückte ihn ihr in die Hand. Sie freute sich darüber mindestens so sehr wie seine Tochter über den neuen Schatz und bedankte sich mehrmals, doch mit welchen Worten, bekam sie schon gar nicht mehr mit, weil sie die goldene Uhr im Lichtschein des Fensters immer wieder drehte und zum Funkeln brachte.
„Der wahre Preis einer Sache ist die Mühe und Plage, ihn zu erarbeiten.“
- Adam Smith
Obwohl Sütren Minute um Minute, Stunde um Stunde ihren Weg fortgesetzt hatte, wollte sich keine Müdigkeit einstellen. Unermüdlich bohrte sie ihre Klauen in den kühlen Sand, federte sich mit Leichtigkeit ab und brachte sich damit ihrem Ziel ein winziges Stück näher.
Nicht nur die Empfindung der Erschöpfung fehlte ihr, ihr leichtes Herz ließ sie nichts mehr fühlen außer einer dumpfen Beschwingtheit. Es stand außer Frage, dass sie ihren Weg fortsetzen würde, ungeachtet seiner Länge. Bis zu welchem Ziel? Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in dieses Ödland gelangt war und auch nicht daran, was sich dahinter befinden mochte.
Alles, was sie wusste, war, dass sie weitergehen musste, immer weiter. Vielleicht gab es auch kein Ziel. Vielleicht lag der Grund ihrer Reise hinter ihr, sie war eine Flucht vor einem unbekannten Grauen. Falls dem so war, war dieser Schrecken längst überholt worden von heiterer Apathie.
Der volle, gelbe Mond sah unerbittlich auf sie herab. War es hier jemals Tag gewesen? Dies schien kein Ort zu sein, an dem die Sonne sich blicken lassen würde. So unbeständig konnte diese Ewigkeit nicht sein. Doch das von ihm ausgehende Zwielicht reichte aus, um den Horizont in allen Himmelsrichtungen zu sehen. Davor: Eine schier unendliche Fläche aus Sand, durchsetzt von leichten Hügeln und Tälern, deren Besteigen ihr doch keine Unannehmlichkeiten bescherte.
Sein Licht glitt über den grauen Sand und ließ ihn violett schimmern, als wäre die Wüste übergossen von Öl. Die kärglichen Pflanzen, die sich in willkürlich anmutenden Abständen aus dem Boden gekämpft hatten, waren davon nicht betroffen. Sie blieben grau und unscheinbar, als wären sie längst abgestorben und nur durch die Massen des Sandes daran gehindert, sich zum Schlafen niederzulegen.
Der heulende Wind fuhr durch die mageren Äste, ließ vereinzelte Blätter rascheln. Neben einem auf- und abschwellenden Quietschen und Knarzen war er das einzige Geräusch, das ihren Weg begleitete. Den Sand selbst jedoch vermochte er nicht zum Wandern zu bewegen, ebenso wenig, wie er ihr freiliegendes Gesicht streichelte oder ihr Fell beiseite bog.
Sie hatte sich so an die absolute Unveränderlichkeit ihrer Umgebung gewöhnt, dass sie erst gar nicht bemerkte, wie sie gebrochen wurde. Eine gläserne Kuppel hatte sich aufgetan, wie ein riesiges Aquarium, das seinem Besitzer aus der Hand gefallen war und dessen Scherben sich über den Boden verteilt hatten.
Vielleicht hatte sie sie auch nicht gesehen, weil sie sich langsam in das Sichtfeld ihres rechten Auges geschoben hatte, anstatt wie die Offenbarung, die sie war, direkt vor ihr aufzutauchen.
Lange, und diese Zeit konnte sie sich nehmen, weil es noch Stunden dauern würde, bis sie das Gebilde passiert hätte, überlegte sie, ob sie abbiegen sollte. Wenn dieser Ort ihr Ziel war, warum war er nicht vor ihr? War er nur eine Ablenkung am Wegesrand, ein Fehler, der sich in das perfekte Bild der Ödnis eingeschlichen hatte?
Eigentlich war es egal. Zeit hatte keine Bedeutung für sie, Stunden konnte sie wegwerfen, ohne Reue zu empfinden. Also konnte sie sich diese Kuppel genau so gut ansehen. Trotzdem bog sie noch nicht ab. Es kam ihr wie ein Verrat an ihrer bisherigen Leistung vor, einen schrägen Weg einzuschlagen. Stattdessen ging sie weiter stur geradeaus, jedoch mit der Überzeugung, dass sie sich in einem perfekten Winkel nach rechts wenden würde, wenn die Zeit dafür reif war.
Zum ersten Mal empfand sie eine leichte Regung, und sie brauchte einige Minuten, um sich bewusst zu werden, was sie war: Neugierde. Wie eine unbeteiligte Beobachterin hatte sie bisher zugesehen, wie sie Schritt für Schritt gesetzt hatte, ohne sich jemals von sich selbst zu entfernen. Die Anzahl an Spuren im Sand, die sie hinter sich hergezogen hatte, war immer gleich geblieben. Jetzt hingegen kam es ihr so vor, als würde sie in sich selbst gesogen, als würde ihr Verstand ihrem Körper immer näher kommen, um sich endlich wieder mit ihm zu vereinen.
„Ich hüte meine Schätze: mein Denken, meinen Willen, meine Freiheit. Und der größte davon ist die Freiheit.“
- Ayn Rand
Das Quietschen des gigantischen Riesenrades ging in der Kakofonie an Geräuschen schon fast unter. Vögel zwitscherten, einige hatten vielleicht ihre Nestern in den Gondeln gebaut. Beim Gedanken an Tauben, die ihre Familien dort aufzogen, wo einst Menschen Händchen gehalten hatten, musste er lächeln. Der Wind rauschte durch Gras, Bäume und Ranken und trug die angenehme Wärme des Frühlings mit sich.
Karnel zog vorsichtshalber seine Taschenuhr aus der Hose und warf einen Blick darauf, geplagt von der Angst, das laute Ticken, das sie einmal in der vollen Stunde von sich gab, überhört zu haben. Doch sie stellte sich als unbegründet heraus: Satte 5 Stunden, 43 Minuten und 20 Sekunden blieben ihm noch. Genug Zeit, um seine Aufgabe zu vollenden.
Das Artefakt musste sich an diesem Ort befinden. Er hatte die Villa in der Vorstadt längst durchsucht, ebenso die Zweitwohnung, die er immer als bescheiden bezeichnet hatte, bei der einen Gelegenheit, bei der sie Worte ohne Publikum gewechselt hatten. Bei dem Gedanken grinste er, aber sein Herz zog sich zusammen. Die Wut war erst danach in seinem Herzen gewachsen, doch ihre Samen waren von ihm selbst gepflanzt worden. Die Jahre der Dürre hatten sie nicht verdorren lassen, sie hatten lediglich unter der Erde auf die Regentropfen gewartet, die sie nähren würden.
Mit der nun ruhigen Gewissheit, dass ihm die kostbare Zeit nicht ausgehen würde, nahm er sie sich, um seine Umgebung genauer zu betrachten. Nicht mit dem scharfen Blick eines Raubvogels, der seine Beute fixierte, sondern mit der Muße, die wohl auch er damals an den Tag gelegt hatte, wenn er beobachtet hatte, wie seine geliebten Enkelkinder am privaten Strandabschnitt im Sand gespielt hatten. Ihre Burgen hatte er auch danach noch gesehen, als hätte die Hand der Zerstörung sich gescheut, die Werke der Kinder zu berühren, obwohl sie sich vorher ungeniert an denen derer, zu denen sie werden würden, ausgetobt hatte.
Das Riesenrad war von Ranken bewachsen, die es fest im Boden verankerten, als würde er sich an seine neugewonnene Beute klammern. Es konnte sich nicht mehr drehen, sondern ließ seine Kabinen nur sanft im Wind schwanken oder ruckeln, wenn ein Vogel landete.
Doch Karnel wusste, dass die Natur diese kleinlichen Besitzansprüche keinesfalls hegte. Sie nahm nur in Anspruch, was ihr längst und schon immer gehört hatte, und er konnte es ihr nicht verübeln. Die grünen Arme schlangen sich unerbittlich um die Kapseln, in denen einst fröhliche Familien und verliebte Paare gesessen hatten.
Die Beleuchtung war natürlich längst ausgefallen. Trotzdem war es schön, über die auseinandergesprengten Pflastersteine zu wandern, auch wenn er aufpassen musste, nicht zu stolpern, was sich als echte Herausforderung darstellte, weil ihn der Anblick der bunt bemalten Buden, nun nicht mehr mit blinkenden Lichtern, sondern wilden Blumen geschmückt, ablenkte.
Als er bei einem Stand vorbeikam, bei dem früher Zielschießen angeboten worden war, blieb er stehen. Er war drauf und dran, das Gewehr selbst in die Hand zu nehmen und sein Glück zu versuchen, doch er wusste, dass er sich diese Vergnügungen momentan nicht leisten konnte. Stattdessen sprang er über die Absperrung und ging mit schnellen Schritten direkt zu den Preisen. Einer davon, ein kleines Set aus 5 Glitzerstiften, hatte ihn instinktiv angesprochen.
Er schnappte es sich und verstaute es sicher in seiner Tasche. Später, wenn er mehr Zeit hätte, würde er zurückkehren und es sich verdienen. Doch jetzt musste er weiter. Er wusste noch, dass seine Tochter das Gruselkabinett geliebt hatte. Eigentlich war sie zu jung dafür gewesen, aber er hatte sich immer erweichen lassen, sie dahin zu begleiten. Das war auch der Grund dafür, warum er das Artefakt aus ihrer Vergangenheit dort vermutete. Hatte er es verloren oder war es dort für ihn platziert worden, damit er es siebzehn Jahre danach finden konnte?
Dem Clown, dessen geöffneter Mund den Eingang darstellte, hatte der Zahn der Zeit ordentlich zugesetzt. Die Farbe war abgeblättert und hing in Fetzen hinab, die Augen hatten den Glanz verloren. Wenigstens stieß er nun nicht mehr dieses abscheuliche Gelächter aus, wenn die Bewegungssensoren ihm einen nichtsahnenden Besucher meldeten. Wahrscheinlich waren die dünnen Drähte, die schon damals nicht immer funktioniert hatten, endgültig verrottet.
Gnädig ist sie sowieso noch nie gewesen, dachte Karnel, als er unter seinen verfaulten Zähnen hindurch schritt und in die düsteren Innereien des Clowns eingelassen wurde. Nun, er war von schlimmeren Kreaturen verschlungen worden, und dieses Mal würde der Weg hinaus wenigstens schmerzlos, wenn schon nicht kurz sein.
Zuerst ging er den Gang hinunter, in dem normalerweise ein Schausteller, der eine Kettensägen-Attrappe schwang, aus einem versteckten Kabuff hinter einem auftauchte und einen bis in die Halle verfolgte. In dieser kamen plötzlich Fledermäuse von der Decke herab, die, sobald mensch sie verlassen hatte, an ihren durchsichtigen Fäden wieder nach oben gezogen wurden.
Als Karnel sie jedoch betrachtete, hingen sie noch herunter. Die meisten zumindest, denn einige lagen in den Pfützen, die sich auf dem Boden gebildet hatten. Die allgegenwärtigen Ranken kamen auch aus den Löchern in der Decke gekrochen, rissen sie auseinander wie es ein neugieriges Kind mit einem Geschenk tun würde. Die Fledermäuse, die noch schwebten und sich sanft im Wind drehten, hatten sie bisher nicht erreicht.
Der nächste Raum war der, vor dem es ihm graute. Das Spiegelkabinett war ebenfalls nur ein Abglanz seiner früheren Pracht, viele Spiegel waren gesplittert oder sogar ganz zusammengebrochen, sodass er die Gerippe dahinter sehen konnte. Ihren Schrecken, das verzerrte Wiedergeben menschlicher Gestalten, hatte sie dadurch nicht verloren.
Er versuchte, den Blick in die Scherben zu vermeiden und so seinen Weg durch das Labyrinth zu finden, doch seine tastenden Hände wurden immer wieder von der kalten, glatten Oberfläche gestoppt und sein erschrockener Blick nach oben wurde gleich bestraft. Er war alt geworden.
Früher hatte er seine schwarzen Haare in einem modischen Afro getragen, doch darin waren die weißen Strähnen zu stark aufgefallen. Inzwischen hatte es wohl nicht einmal mehr einen Sinn, sie in seinen Rastalocken zu verstecken. Sie waren so zahlreich geworden, dass sie trotzdem herausstachen.
Doch auch diesen Raum überstand er. Nicht, dass ihm eine echte Gefahr gedroht hätte. Es war nur ein Unwohlsein gewesen, das sich seiner Gedanken bemächtigt hatte. Die letzten Stunden würde es ihn verfolgen, danach würde es jedoch sowieso ausgelöscht. Jedenfalls sagte er das, um sich die bleibenden Minuten nicht zu verderben.
Endlich erreichte er den Ort, den er für sein Ziel hielt: Die alte Bibliothek mit Regalen, die, wenn mensch darauf achtete, mit leeren Büchern befüllt war. Auch die Titel, die in Gold auf den Buchrücken geprägt worden waren, um den Anschein von Alter und Eleganz zu erschaffen, wiederholten sich nach einigen Regalbrettern.
Nicht, dass es irgendeiner Besucherin aufgefallen wäre, denn hier wurden sie normalerweise von einem altertümlich gekleideten Geistermädchen gejagt. Ihr Kleid, an einigen Stellen schon rissig, lag noch auf dem Boden, durchwoben von weiteren Ranken. Wenigstens waren keine Knochen zu sehen, sodass sie wahrscheinlich nicht bei der Ausübung dieser Arbeit gestorben war.
Das war der Lieblingsort seiner Tochter gewesen. Sehr zur Belustigung der Schaustellerin hatte sie nie Angst vor dem Geist gehabt, sondern versucht, sich mit ihr anzufreunden. Und diese Bemühungen hatten auch gefruchtet, denn die Schauspielerin hatte sich immer die Zeit genommen, ein bisschen mit ihr zu plaudern, nachdem sie schreiend aus dem Wandschrank gestürzt gekommen war und danach festgestellt hatte, wem sie die Ehre des Besuchs zu verdanken gehabt hatte.
Sein Blick schweifte nur kurz über den Raum, dann hatte er schon umfasst, was er suchte: Ein Knopf, eigentlich unscheinbar am unteren Ende der Treppe lag, die zum nächsten Raum führte. Das Licht, das durch die Löcher in der Decke fiel, verfehlte ihn um einige Meter und ließ stattdessen das dunkelbraune, verschnörkelte Geländer glänzen, trotzdem fiel er ihm direkt ins Auge.
Eilig ging er darauf zu, den Staub vieler Jahre aufwirbelnd. Als er das Artefakt endlich zwischen den Fingern hielt und es hin- und herdrehte, erfüllte ihn die Gewissheit, dass es sich wirklich um den gesuchten Gegenstand handelte: Ein Knopf seines Jacketts, das er damals noch getragen hatte, weil er zu spät aus einem Meeting gekommen war und seine Tochter eilig zum Vergnügungspark eskortiert hatte.
Zufrieden steckte er ihn in seine Tasche, ließ ihn neben den Stiften zur Ruhe kommen, und marschierte auf den Ausgang zu. Draußen wartete der Sonnenschein auf ihn und ließ ihn die Augen zusammenkneifen. Sobald er sich wieder an die Helligkeit, den warmen Wind und die Geräuschkulisse gewöhnt hatte, zog er seine Uhr hervor. 4 Stunden, 23 Minuten und 2 Sekunden.
Sein nächstes Ziel würde er damit nicht erreichen können, da sich hier keine verschlossenen Türen mehr befanden, aber er musste sich jetzt auf den Weg machen, wenn er es jemals erreichen wollte. Mit einem leichten Zögern, denn er wäre gerne weiter an diesem Ort verweilt, wäre seinen eingeflüsterten Versuchungen erlegen, doch die Zeit wartete nicht.
Das Riesenrad war schon längst am Horizont hinter ihm verschwunden, verdeckt von den grauen, teils eingestürzten Hochhäusern, als er aufhörte, zu existieren.
„Sie besitzen eine innere Kraft, die Sie zu Ihrer Lebensaufgabe hinführen möchte.“
– Perfekt! Der überlegene Weg zum Erfolg, Robert Greene, S. 51
Xe seufzte und drückte die Knöchel gegen die Schläfen, bis der pochende Kopfschmerz neben dem Druck verblasste. Angenehmer war es nicht, aber der körperliche Schmerz beruhigte xen. Ein Blick auf den Terminkalender hatte xem verraten, dass diesen Monat noch zwei Rechnungen warteten: Die Büromiete und die zusätzlichen Stromkosten. Natürlich vom billigsten Anbieter, aber das machte es umso bedrückender, sie nicht zahlen zu können.
Ein Blick auf xes Smartwatch, eine Leihgabe des Unternehmens, zeigte, dass dem wirklich so war. Es war nicht so, dass viele Euros fehlten, aber wie xe sie beschaffen konnte, wusste xe nicht. Irgendetwas fiel Sew schon ein, das tat es immer. Das Problem war eher, dass es nicht immer angenehm war. Letztes Mal hatte xe die Taschenuhr xes Großmutter verkauft. Sonderlich daran gehangen hatte xe nicht, aber bei dem Gedanken, dass xem nun nur die Erinnerungen an sie blieben, war xem ganz flau im Magen geworden.
Jetzt blieb nichts mehr. Jedenfalls nichts, was xe nicht zum Leben bräuchte. Vielleicht war dieses Mal der Reiskocher an der Reihe, auch wenn er ständig in Benutzung war. Und nächsten Monat?
Irgendwann konnte xe die Wohnung auch ganz aufgeben und gleich ins Büro ziehen. Xe durfte sich nur nicht erwischen lassen, denn legal war das nicht.
Aber was hätte xe dann noch zu verlieren? Im Gefängnis musste xe zwar auch arbeiten, aber wenigstens hatte xe dann immer ein Dach über dem Kopf. Nur die Sache mit der lebenslangen Verschuldung, falls xe jemals herauskommen würde, war ein echtes Problem. Irgendwie hing xe schon noch an der ungewissen Zukunft.
Das leise Pling einer ankommenden Nachricht, das ein tieferes Knirschen übertönte, riss xen aus den trüben Gedanken. Eigentlich durfte xe es sich nicht leisten, Zeit zu vertrödeln. Reue über die unsinnigen Regungen von eben machten sich in xem breit, als xe den Bildschirm wieder aktivierte und sich an die Arbeit machte.
Das künstliche, blaue Licht des Bildschirms beleuchtete eine spartanische Kapsel, begrenzt von engen, weißen Wänden ohne persönliche Fotos und Notizen. Das war gegen Unternehmensrichtlinien. Das Licht spiegelte sich auch in Sews Brille, hinter der zusammengekniffene, graue Augen lauerten. Das schwarze Haar war streng zurückgebunden, um bei der Arbeit nicht ins Gesicht zu fallen, auch die Falten um den Mund zeugten von ähnlicher Strenge.
Diese Aufgabe war anders. Erst hatte xe gedankenverloren begonnen, die üblichen Prozesse anzuwerfen, als xe aufhorchte. Das konnte nicht sein. Die Nachricht, über die der Auftrag erteilt worden war, war ein Code. Sie leitete ganz spezifische Schritte ein, Schritte, die selbst eine Nachricht darstellten.
Xes schmerzende Finger tanzten über die Tasten, die direkt in die Tischplatte eingelassen waren, um einmal am Tag, nach Feierabend, eine automatische Reinigung zu veranlassen. Aufregung hatte xen gepackt. Das Adrenalin, das durch xes Adern strömte, verdrängte jeglichen Gedanken an mögliche Konsequenzen. Xe wollte diesem Mysterium auf die Spur kommen, selbst, wenn es xen den Job und damit das Leben kostete.
Sew bemerkte nicht einmal, wie die Zeit verging. Hier drinnen herrschte sowieso nur künstliches Licht, um mögliche Ablenkungen zu vermeiden. Studien hatten gezeigt, wie viel Zeit Menschen in den Büros von vorgestern damit vertrödelt hatten, aus dem Fenster zu starren oder zu plaudern. Ehe xe es sich versah, waren alle Befehle ausgeführt, alle Routinen gestartet. Und das Gesamtbild hatte sich ergeben. Bis zu dem Moment, in dem das letzte Puzzleteil an seinen Platz gefallen war, hatte xe nicht glauben können, dass es wirklich dieser Satz war, der sich vor xes Augen entfaltete. Es war praktisch Gotteslästerung.
Katastrophe kommt. Brauche Hilfe. Morgen, 20 Uhr, Parkplatz.
Xe schluckte. Irgendjemensch hatte sich extreme Mühe gegeben, diese Botschaft zu verbergen. Und zwar so geschickt, dass nur eine Person in xes Situation in der Lage sein würde, sie zu entschlüsseln. Vielleicht sogar nur xe selbst, denn xe wusste nicht gerade viel über die Anderen, die in xes Abteilung arbeiteten.
Sich auf dieses Treffen einzulassen, war zweifelsohne ein Risiko. Kurz kam xem der Gedanke, dass es der morbide Test irgendeines Vorgesetzten war, der beobachten wollte, ob xe so ein Vorkommnis meldete. Doch so viele Gedanken hatten sie noch nie an xen verschwendet und xe konnte sich nicht vorstellen, dass sie jetzt damit anfangen sollten. Sie brauchten ja keinen Grund, um xen rauszuwerfen, und ersetzbar war xe sowieso.
Das bedeutete, dass es kein Test war und dementsprechend wohl auch nichts mit xes eigentlicher Arbeit zu tun hatte. Die Nachricht musste von einem Menschen kommen, der nicht wollte, dass eine:r ihrer Vorgesetzten seine Nachricht sah, falls er nicht sogar selbst zu ihnen gehörte. Eine Katastrophe also, von denen sie nichts wissen sollten.
Falls die Person etwas Böses im Sinn hatte, konnte xe sie immer noch melden. Vielleicht war das sogar besser, denn dann bestand die Aussicht auf eine Prämie für xen, die vielleicht die fehlenden Euros für diesen Monat ausglich. Je nachdem, wie hoch auf der Liste der gesuchten Personen sie stand, sogar für mehrere. Damit war es gesetzt.
„Keine zwei Naturen scheinen weniger miteinander vereinbar zu sein als die des Kaufmannes und die des Herrschers.“
- Adam Smith
Andächtig schritt Sütren durch das Tor in die gläserne Kuppel, als würde sie eine uralte Kathedrale, gebaut von Sklavenhand und trotzdem oder gerade deswegen wunderschön, betreten. Dabei war es keine echte Tür, nur ein großer Riss in der gläsernen Haut des Gebildes. Das kalte Licht der Sonne wurde von den Scherben, die wahlweise den Boden bedeckten oder noch an ihren angestammten Plätzen hingen, teils in bedrohlichen Winkeln, reflektiert und ließ die Umgebung wie ein Kaleidoskop erleuchten.
Nicht, dass zusätzlicher Glanz nötig gewesen wäre. Das Innere der Kuppel war vollkommen überwuchert. Die sorgfältig angelegten Beete, die der Phantasmagorie zugrunde lagen, waren noch hier und da erkennbar, verschlungen von Pflanzen in allen erdenklichen Formen und Farben: Orange schimmernde Blütenkelche, so lang wie ihr Unterarm, pelzige Pilze, die in einem für sie unhörbaren Rhythmus pulsierten und mehrfarbige Blüten, die so flach waren, als wären sie aus Papier ausgeschnitten worden, buhlten um ihre Aufmerksamkeit.
Sie konnte sich gar nicht sattsehen an den vielfältigen Formen und Farben, doch eine innere Unruhe hatte von ihr Besitz ergriffen. Ein drängender Gedanke daran, dass sie ein Ziel gehabt hatte, die ganze Zeit. Das Wissen darum schlummerte unter der Oberfläche, wollte sie jedoch noch nicht durchbrechen. Andererseits gab es hier sowieso keinen klaren Pfad, der sie an dieses Ziel führen würde, also konnte sie sich genauso gut in den Details verlieren. Was auch immer sie vergessen hatte, falls sie es je gewusst hatte, konnte sich ebenso zwischen den duftenden Blüten und Blättern verbergen wie an jedem anderen Ort.
Langsam wanderte sie zwischen den Beeten umher, betrachtete mal diese Pflanze, mal eine andere. Schließlich wagte sie es, eine Pfote auszustrecken und ein herabhängendes Blatt beiseite zu schieben, das ihr den Weg versperrt hatte. Es fühlte sich weich unter ihren Klauen an und zerfaserte sogleich an den Stellen, an denen sie es berührt hatte, sodass sie sich erschrocken zurückzog und lieber geduckt darunter herlief. Sie wollte die Ruhe dieses Ortes, an ein Mausoleum erinnernd, nicht stören.
Gleich bot sich ihr noch ein Grund, zusammenzuzucken. Mit einem ohrenbetäubenden Knarzen schob sich eine Ranke von unten durch den Boden, brach die violett schimmernde Erdkruste auf und vereinigte sich mit einem weiteren Strang, der sich aus dem Dschungel über ihren Kopf schlängelte. Fasziniert beobachtete sie, wie sie sich zu verknoten und dann regelrecht zu verschmelzen schienen, bis die beiden Einzelteile nicht mehr voneinander zu unterscheiden waren.
Und dann geschah etwas Unglaubliches: Eine einzige Blüte entfaltete sich, in tiefstem Violett. Langsam, während sie mit angehaltenem Atem zusah, wurde ihre Farbe an den Rändern heller, bis sich ein zarter Verlauf gebildet hatte. Ihr war, als hätte sich dieser wundersame Garten entschieden, ihr persönlich dieses Spektakel zu bieten.
In einem Zug stieß sie den Atem wieder aus. Sie wusste selbst nicht, warum sie so angespannt gewesen war. Als wäre dieses Erblühen die Enthüllung eines Geheimnisses gewesen, die sie nur nicht begriffen hatte. Verwirrt streckte sie die Pfote danach aus. Die weiche Blume hinterließ einen leichten Staub auf ihren Krallenspitzen.
Sie musste an die violetten Flaschen denken, die im Büro gestanden hatten, auf einem Regal, das wohl extra für sie an die Wand geschraubt worden war. Die ungewöhnliche Färbung war ihr immer fehl am Platz vorgekommen und jetzt war sie sich sicher, dass ein Zusammenhang bestehen musste. Warum war ihr das nicht schon vorher aufgefallen?
Sie brauchte die Blüte als Beweis. Es kam ihr vor wie ein Sakrileg, sie von der zitternden Ranke abzupflücken, aber ihr Ziel rechtfertigte dieses Mittel hoffentlich. Trotzdem war sie möglichst vorsichtig, als sie das Maul öffnete, die Blume damit umfasste und sie mit einem zielstrebigen, aber sanften Biss von ihrem Ursprung löste.
Mit der Blume im Maul wanderte sie weiter. Langsam wurden ihre Augen müde von dem Überfluss, der sich ihnen bot. Die Farben flimmerten und sie konnte ihren Blick nicht mehr wirklich auf eine einzelne Pflanze fokussieren, sie verschwammen zu einem einheitlichen Bild. Wie eine Zuschauerin, die von ihrem sicheren Sitz im Kettenkarussell die Kirmes vorbeiziehen sah, ohne Einzelheiten ausmachen zu können, berauscht von den Farben alleine.
Bis sie das Bein sah. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Sie hatte in den letzten Minuten einige bizarre Formen erblickt, denn mehrere Pflanzen hatten humanoide Züge angenommen, doch das hier war etwas anderes. Es war kein Pilz, der wie ein Ohr aussah, oder eine Blüte, die an Lippen erinnerte. Ein Mensch, der in den Ranken hing. Zögernd ging sie weiter, die Augen nun schräg nach oben gerichtet. Schritt für Schritt enthüllte sich das Gesamtbild, das ihr zeigte, dass sie mit ihrer Vermutung richtig gelegen hatte: Der Mann war fast schon liebevoll von den Pflanzen umschlungen worden, die an ihm herauf- oder von ihm herabgewachsen waren und ihn in ihrem grünen Käfig umarmt hielten.
Einige der Ranken hatten sich von hinten durch seine Brust gebohrt, wohl, als er noch gelebt hatte, denn sein Gesicht war vor Angst und vielleicht auch Schmerz verzerrt. Seine blicklosen Augen starrten ins Leere, an die Stelle, an der die Blüte sich herausgebildet hatte. Mit klopfendem Herzen sah sie ihm ins Gesicht, als könne er sich jeden Moment dazu entscheiden, sich doch noch zu bewegen.
Es fühlte sich falsch an, ihn hier in diesem Zustand hängen zu lassen. Von den Pflanzen befreien wollte sie ihn jedoch auch nicht, denn irgendwie sah er so aus, als würde er schon an dem genau richtigen Ort hängen. Ob er nun in der Erde verscharrt war, um später Futter für die Wurzeln zu werden, oder sie jetzt ernährte, machte auch keinen Unterschied.
Vorsichtig schlug sie ihre Krallen in die nächstgelegene Ranke, die aussah, als könne sie ihr Gewicht halten. Ein grünlich-violett schimmernder Saft trat aus und benetzte ihre Klauen, doch sie ließ sich davon nicht stören, sondern zog sich weiter nach oben. Ihre Wette war aufgegangen, und sie konnte flink bis zu dem Mann krabbeln und, mit einem Arm und beiden Beinen an ihrem Seil hängend wie eine Matrosin, und seine Augen schließen, was den erschreckenden Eindruck etwas milderte.
Als dieses Werk vollbracht war, setzte sie ihren Weg fort. Ihr war klar, dass dieser grausige Fund nicht der Grund gewesen war, weshalb sie an diesen Ort gerufen worden war. Es musste noch etwas Anderes auf sie warten. Die Schönheit des Garten hatte einen Teil ihres Reizes verloren, als sie hinter die Fassade geblickt hatte.
Mehr als einmal wurde ihr der Weg von den wuchernden Ranken versperrt, doch irgendetwas in ihr sträubte sich dagegen, sie mit ihren Krallen zu zerschneiden. Wenn möglich, bog sie sie also beiseite oder suchte sich, wenn das Dickicht zu dicht wurde, einen anderen Weg durch den farbenfrohen Dschungel.
Längst hatte sie das Zeitgefühl verloren. Auf dem Weg durch die Wüste war diese Taubheit noch dem vollständigen Fehlen von neuen Reizen geschuldet, inzwischen war es eher die Überflutung damit. Der schwere, süße Duft der Blumen drang von allen Seiten in ihre empfindliche Nase ein und schien ihren Verstand zu benebeln.
Mit der Zeit wurde er immer aufdringlicher und sie bemerkte, dass sie instinktiv damit begonnen hatte, flacher zu atmen. Die dicken Pflanzenstängel mit ihren Dornen und Verästelungen, die ihr den Weg versperrten, und die Luft, die ihren Geruchssinn immer stärker angriff, gaben ihr das Gefühl, in diesem Teil der Kuppel nicht willkommen zu sein. Sie war sich jedoch sicher, dass ihr Ziel vor ihr lag und kämpfte sich weiter vor.
Schließlich öffnete sich eine Art Lichtung vor ihr. Die dicksten Stängel sprossen aus dem Boden wie der explodierte Kessel einer Dampfeisenbahn und gruben sich erst in einiger Entfernung wieder in die Erde, eine Art natürlichen Wall um das Epizentrum bildend. Sütren musste die Luft anhalten und ihre Schultern verdrehen, um sich zwischen den Ranken hindurchzuquetschen.
Mit leicht schmerzenden Glieder gelangte sie auf die andere Seite und blieb einen Moment stehen, um Atem zu schöpfen. Es hatte keinen Zweck mehr, sich der Luft zu verweigern, dafür war die Anstrengung zu groß gewesen. Sie bemerkte, wie sich ein leichter Kopfschmerz ankündigte, wie ein unangemeldeter Besucher, der leise gegen die Haustür klopfte.
Dann ging sie auf das Zentrum zu, einen marmornen Brunnen, in dem sich jedoch wild wucherndes Gewächs anstatt von Wasser befand. Die Pflanzen sprossen aus etwas heraus, das sie selbst mit ihren scharfen Augen, geweitet, um möglichst viel des durch die Glaskuppel gebrochenen Lichts einzufangen, auf die Entfernung nicht erkennen konnte.
Ein paar Schritte weiter war ihr das theoretisch möglich, doch ihr Hirn weigerte sich, die Reize ihrer Sehnerven mit den passenden Informationen zu verbinden. Was sie vor sich sah, wollte im ersten Moment keinen Sinn ergeben.
Die Wurzeln zogen ihre Nährstoffe aus Papieren, in kleiner Schrift bedruckt und zu hunderten aus einem beliebigen Unternehmensdrucker ausgeworfen. Umgeben waren sie von einem braunen Koffer, der keine sonstigen Verzierungen aufwies. Beides wirkte wie etwas, das ein normaler Angestellter jeden Tag mit zur Arbeit nahm, nicht wie der Ursprungsort dieser regelrechten Explosion an pflanzlichem Leben.
„Im Tempel seines Geistes ist jeder Mensch allein.“
- Ayn Rand
Als er wieder existierte, hatte er sein Ziel noch klar vor Augen. Ihm kam es immer noch so vor, als wäre keine Sekunde vergangen, obwohl ihm der unbarmherzige Lauf der Zeit mehr als klarmachte, dass dem nicht so war. Doch daran hatte er sich schon vor einigen Jahren zumindest oberflächlich gewöhnt.
Die feinen Sandkörner, die er an dem Anzugsknopf hatte kleben sehen, hatten totgeglaubte Erinnerungen in ihm geweckt. Er hatte bereits ein Mal an dieser Stelle gestanden, kurz bevor er den größten Fehler seines Lebens begangen hatte. Die Erinnerungen holten ihn ein, als er den vollends von wild sprießendem Unkraut überwucherten Parkplatz sah, auf dem inzwischen kein Auto mehr stand.
Erneut holte er den Knopf hervor und drehte ihn zwischen den Fingern, als könne er ihm ein weiteres Geheimnis verraten. Wobei sich nicht einmal der Wahrheitsgehalt des ersten sicher erschien, immerhin hätte der Sand auch von beliebig vielen anderen Orten stammen können. Allerdings war er überzeugt gewesen, dass es sich bei dem Knopf um das gesuchte Artefakt handelte.
Die Eingebung war so plötzlich und heftig über ihn gekommen, dass er fest daran glauben musste, dass sie sich ihm aus einem bestimmten Grund enthüllt hatte. Das Artefakt hatte ihn an diesen Ort geführt, auch wenn er nicht mit der Art gerechnet hätte, mit der es das getan hatte.
Vorsichtig verstaute er den Knopf wieder in der Tasche und betrachtete die Villa. Er glaubte nicht wirklich daran, dass der gesuchte Mann sich noch hier befand, denn Karnel war noch lange nicht am Ende seiner Reise angekommen, aber inzwischen konnten sich andere Leute hier eingenistet haben.
Abgesehen von den Pflanzen darum herum, die lange nicht mehr die züchtigende Hand eines Gärtners gespürt hatten, sah die Villa in keinster Weise verfallen aus. Sie schien in ihrer ganz eigenen Beziehung zur Zeit zu stehen, sich dem Konzept zu widersetzen. Nur die Pflanzen hatten diese Standhaftigkeit durchbrechen können. Und trotz allem, was der Mann ihm angetan hatte, konnte Karnel in dem Moment nicht anders, als sich mit seiner Zweit- oder Drittresidenz zu identifizieren.
Das hellrote Dach leuchtete noch in kräftigen Farben, durch die von weißen Läden eingerahmten Fenster konnte er in ein geräumiges Wohnzimmer, ganz in hellen Tönen gehalten, sehen. Die Ziegel waren von einem matten Beige, nicht von Erde verschmutzt, aber teils von Pflanzen bedeckt.
Betreten hatte er das Haus bisher nicht, doch jetzt verspürte er einen Sog, der ihn ins Innere zog. Nachdem er es ausgiebig betrachtet, durch einige, vielversprechende Fenster ins Innere gesehen hatte und zu keinem besonderen Ergebnis gekommen war, machte er sich zielstrebig auf den Weg. Dieses Mal führte ihn sein Schicksal nicht in den Hof. Hoffentlich täuschte es sich nicht erneut.
Die Haustür war nur angelehnt und ließ sich tatsächlich auch nicht mehr richtig schließen. Sie schien mit Gewalt aufgebrochen worden zu sein, doch nach seiner eingehenden Betrachtung war er sich sicher, dass diejenigen, die das getan hatten, längst über alle Berge verschwunden waren. Immerhin hatten schon einige Ranken den dadurch entstandenen Spalt ausgenutzt und sich gewaltlos in das Innere geschlängelt.
Trotzdem hatte er das Gefühl, leise sein zu müssen, als würde er in eine heilige Stätte eindringen. Er hatte viele Häuser durchsucht, das war nach dem Ereignis auch nötig gewesen, aber nie von Personen, die er gekannt hatte. Es überraschte ihn, dass das für ihn scheinbar einen Unterschied machte.
Er schob die Haustür weiter auf und trat in einen geräumigen Flur. Feinsäuberlich waren Designerjacken an der Garderobe aufgehangen, auch das Schuhregal war gut bestückt. Er ließ den neugierigen Blick jedoch nur darüber schweifen, weil er sich sicher war, dass sich das gesuchte Artefakt nicht dort befinden konnte.
Auch das lichtdurchflutete Wohnzimmer ließ er links liegen, um sich der gewundenen Treppe zuzuwenden. Der Teppich, vom angesammelten Staub gräulich gefärbt, dämpfte die Schritte seiner schweren Stiefel, als er hinaufstieg. Dabei betrachtete er die Bilder an der Wand, Kunstdrucke von höchster Qualität und Familienfotos, hier am Strand und in der Villa aufgenommen: Ein Mädchen, das eine Wassermelone verspeiste, auf einer Picknickdecke sitzend. Das gleiche Mädchen mit einem älteren Mann, beide grinsten mit bemalten Gesichtern in die Kamera. Eine prächtige Sandburg am Strand, verziert mit Muscheln und bunten Steinen.
Gegen seinen Willen musste er lächeln. Die Fotografien sprachen von einer liebevollen Familie, etwas, das er nie gekannt hatte. Diese Chance hatte er vertan. Eigentlich war das auch ein Thema, über das er nicht häufig nachdachte, da er es präferierte, in der Gegenwart zu leben. Jetzt, wo er unfreiwillig mit der Nase darauf stieß, war das eine andere Sache.
Mühsam wandte er den Blick ab und betrachtete stattdessen die vier Türen, die nun vor ihm lagen. Er wandte sich der linken zu und stieß sie auf. Ein Kinderzimmer öffnete sich ihm, die Kommodenschubladen aufgerissen und einige Klamotten in kleinen Größen lagen auf dem Boden und Bett verteilt. Scheinbar hatte sich hier jemensch bedient und nur die besten Stücke herausgesucht. Nicht, dass es überhaupt irgendeine Hose hier gegeben hätte, deren Preis unter seinem vorherigen Monatslohn gelegen hätte.
Doch dieser eine Blick reichte ihm schon, denn er war sich sicher, sein Ziel hier nicht erreichen zu können. Als nächstes war also die mittlere Tür dran, mit einem opulenten Badezimmer dahinter, das auch Plünderungen zum Opfer gefallen war und sein Interesse ebenfalls nicht sonderlich wecken konnte.
Beim nächsten Raum sah das schon anders aus. Es handelte sich nämlich um ein geräumiges Büro, das nur von einem Aktenschrank, momentan leer, wie er durch die Glasfenster sehen konnte, und einem Schreibtisch samt Stuhl eingenommen war. Auf diesen trat Karnel nun zu, ließ den Blick über die Tischfläche schweifen.
Ein Laptop lag dort, zusammengeklappt und von einer dicken Staubschicht bedeckt. Kinderkleidung war es wert gewesen, sie zu stehlen, der Computer nicht mehr, trotz der Firmengeheimnisse, die sicherlich darauf gespeichert waren. Wenigstens in dieser neuen Welt setzten die Menschen die richtigen Prioritäten.
Ihn interessierten momentan mehr die Schubladen des Schreibtisches. Wer auch immer hier eingebrochen war, hatte sich nicht die Mühe gemacht, sie aufzubrechen und nachzuschauen, aber zu seinem Glück war dafür auch kein großer Aufwand nötig. Ein heftiger Ruck und die oberste Schublade schob sich quietschend nach vorne, wobei sie einen feinsäuberlich aufgeschichteten Stapel an gedruckten Briefvorlagen enthüllte, daneben Umschläge, Briefmarken und ein schlichter Brieföffner. Nichts davon hatte er gesucht, trotzdem steckte er die Umschläge und Marken für später ein.
Die Schubladen darunter hatten ihm ebenfalls nichts entgegenzusetzen und gaben ihm den Blick frei auf ein Bündel Bargeld, wohl für Notfälle, einen zweiten Laptop als Ersatz (samt Ladekabel) und mehrere Bücher über Marketing und PR, einige wohl von dem Vorbesitzer der Villa oder seinem Ghostwriter selbst geschrieben.
Karnel runzelte die Stirn und fuhr sich mit der Hand über sein Kinn. Sein Gefühl hatte ihn in diesen Belangen bisher noch nie getrogen, umso verwirrter war er davon, seinem Ziel hier kein Stück näher gekommen zu sein. Auch wenn er etwas Nützliches gefunden hatte, war es nicht das gewesen, was er erwartet hatte.
Er wandte sich dem letzten Gegenstand zu, den er noch nicht genauer unter die Lupe genommen hatte: dem Laptop. Schon als er ihn aufklappte, erkannte er, dass es ein Fehler gewesen war, ihn so lange außen vor zu lassen. Er war einfach davon ausgegangen, dass sein Akku längst leer sein musste und er ohne Strom sowieso nutzlos war. Doch zwischen Bildschirm und Tastatur hatte eine Visitenkarte geklemmt, die durch die plötzliche Bewegung herausrutschte und auf den Boden gesegelt wäre, wenn er nicht geistesgegenwärtig danach gegriffen hätte.
Sie stammte von dem Mann selbst, war professionell designt und hatte sicherlich in vielerlei Hinsicht ein Vermögen gekostet. Das galt wohl als stilvoll, und wenn er nicht so viele unangenehme Emotionen damit in Verbindung gebracht hätte, hätte er sie vielleicht bewundern können. Er war schon immer ein Freund von Schönheit und Eleganz gewesen und der glänzende Unternehmensname, der in silberner Schrift in die stabile Karte geprägt worden war, sprach ihn irgendwie an.
Mit einem leisen Pling, dem Markenzeichen der Marke, sprang der Laptop an. Der Startbildschirm tauchte auf, samt Passworteingabe. Natürlich war der Computer, der hier offen herumstand, mit einem Passwort geschützt. In einem Film wäre es nun der Name seiner Tochter gewesen, und das war ihm auch durchaus zuzutrauen, doch Karnel wusste nicht, ob sie überhaupt einen gehabt hatte.
Er probierte halbherzig einige aus: Marie, Silke, Jenny. Keiner davon entsperrte den Bildschirm, was ihn auch nicht verwunderte, denn sie passten allesamt nicht zu ihr. Kein Wunder, dass sie namenlos geblieben war.
Damit stand auch sein nächstes Ziel fest, und er hatte noch 8 Stunden und 42 Minuten Zeit. Mit den ganzen Türen in diesem Haus konnte er auf jeden Fall sein Glück versuchen und die Reise hoffentlich abkürzen, denn von der vergleichsweise kleinen Küstenstadt, in der er jetzt war, in die Hauptstadt zurück zu gelangen, konnte dauern.
Schon bevor die Autobahnen von Wurzeln und aufstrebendem Löwenzahn durchbohrt worden waren, hätte es mehrere Stunden für ihn, der immer ohne Auto hatte klarkommen müssen, gedauert. Jetzt, wo zahlreiche Brücken eingestürzt waren, verlassene Wagen die Fahrbahnen blockierten und nur noch die Post es irgendwie schaffte, trotzdem schnell von A nach B zu gelangen, konnten leicht Tage daraus werden.
Die Villa, die schon von außen den Eindruck gemacht hatte, geräumig zu sein, wurde diesem Bild von innen mehr als gerecht. Obwohl keiner davon beengt wirkte, gab es zahlreiche Räume, und bei einigen von ihnen hatten die Plünderer doch sicherlich die Tür wieder hinter sich verschlossen. Natürlich hatte er schon versucht, das selbst zu tun und dann frischen Mutes hindurchzuschreiten. Dabei hatte er jedoch nur die Erfahrung gemacht, dass sie ihn in genau den Raum beförderten, von dem er schon wusste, dass er sich dahinter verbarg. Nein, es mussten schon ihm unbekannte Türen sein, die ihn an den halbwegs gewünschten Ort führten.
Unten wurde er tatsächlich fündig. Vom Flur aus gingen zahlreiche Türen ab und obwohl ihm klar war, was noch fehlte - Wohnzimmer, Küche, Esszimmer, bestimmt noch ein Bad - versuchte er, den Kopf freizubekommen und sich möglichst keine Vorstellungen zu machen.
Zielstrebig, um nicht doch noch auf Gedanken zu kommen, ging er auf die erste Tür zu, die sich vor ihm präsentierte, öffnete sie und schritt hindurch. Sorgsam verschloss er sie hinter sich, damit auch die nächste Person, die über die Villa stolperte, leichter an ihr Ziel gelangen konnte. Häufig vergaß er das noch, doch seit er diese Art zu reisen für sich entdeckt hatte, versuchte er, sie anderen Menschen ebenfalls näher zu bringen.
Für ihn war das die einzige Verbindung zu ihnen, die momentan möglich war. Er wusste, dass er nicht alleine auf dieser Welt war. Zwar war er seit Jahren keiner Seele mehr begegnet, aber er fand ihre Spuren: Lager, die erst vor wenigen Stunden, manchmal vielleicht sogar Minuten, verlassen worden waren, Nachrichten, die an Wände geschrieben oder von der Post gebracht wurden, und manchmal konnte er sogar ihre Stimmen hören, auch wenn er niemals deren Ursprung gefunden und nach einiger Zeit auch aufgegeben hatte, es zu versuchen.
Theoretisch war ihm bewusst, dass er einsam war, aber der Zustand hob sich nicht sonderlich stark von dem ab, in dem er vorher gelebt hatte. Und die größte Sorge, die Zeit, war ihm geblieben. Auch die Richtung hatte sich nicht geändert, sie zerrann ihm immer schneller zwischen den Fingern und riss ihn mit sich auf dieser Reise, die er niemals freiwillig angetreten hätte.
Er war in irgendeiner Abstellkammer gelandet, deswegen konnte er seine Umgebung nur schemenhaft wahrnehmen, und es befanden sich definitiv Besenstiele auf seiner Augenhöhe und ein Staubsauger auf dem Boden vor ihm, den er nun mit seinen Zehenspitzen anstieß. Also tastete er sich an der Wand entlang, strich über Regale mit Reinigungsmitteln und Müllsäcken, und fand schließlich den Lichtschalter.
Sofort wurde die Kammer erleuchtet, jedoch, ohne ihn zu blenden, da die nackte Glühbirne über ihm recht funzelig war. Er blinzelte nur ein paar Male und trat dann aus der Kammer heraus in ein Großraumbüro. Die Bildschirme flackerten blau und stellten die einzige Lichtquelle, abgesehen vom Glühbirnenschein, der hinter ihm aus der Abstellkammer quoll, dar.
Ihm war klar, dass er sich im falschen Gebäude befand und hoffte inbrünstig, dass er hier herauskam. Wenigstens konnte er sich hier sicher sein, genügend Türen für eine weitere Reise zu finden. Doch dieses Mittel würde er nur im Notfall wählen, denn er war sich sicher, dass er auf diese Art und Weise nicht unbedingt näher herankommen würde. Die Akkuratheit dieser Reisemethode ließ nämlich zu wünschen übrig.
Er trat an die große Fensterfront und betrachtete die nächtliche Stadt oder das, was von ihr übrig geblieben war. Wie magisch wurde sein Blick von einem bestimmten Hochhaus in der Nähe angezogen und blieb auf den leuchtenden Buchstaben über seinem Eingang, weit unter ihm, kleben: Isis KG, sein Ziel.
„Macht und Intelligenz stellen in einer ganz bestimmten Form den Gipfel des für den Menschen Erreichbaren dar.“
– Perfekt! Der überlegene Weg zum Erfolg, Robert Greene, S. 16
Sew stand auf dem Parkplatz und trat von einem Fuß auf den anderen. Eigentlich hatte xes Entscheidung schon in dem Moment festgestanden, in dem xe die Nachricht entschlüsselt hatte, doch jetzt wurde xe von Unsicherheit übermannt und sah sich immer wieder nervös um, als würde xe es sich jeden Moment anders überlegen und die Flucht antreten.
Bei dieser genauen Beobachtung der Umgebung war xem auch aufgefallen, dass der Treffpunkt perfekt im toten Winkel aller Überwachungskameras lag. Die Nische war relativ klein und eine Person musste sich schon ziemlich auskennen, um sie zu finden. Sew wusste nicht, ob diese perfekte Vorbereitung ihres Treffens beruhigend oder eher Anlass zur Sorge war.
Die gewählte Uhrzeit sorgte dafür, dass der Parkplatz komplett in Finsternis getaucht war. Jedenfalls die Art von Finsternis, die in einer Großstadt noch möglich war. Xe musste mehrfach blinzeln und gähnen, denn diese Dunkelheit bedeutete normalerweise, dass das ersehnte Bett nicht mehr weit war.
Außer den vereinzelten Mitarbeitenden, die zu ihren Wagen gingen oder gerade ankamen und den blinkenden Leuchtreklamen, die ein neues Handy, eine neue Versicherung oder eine neue Gesichts-OP bewarben, hatte xe keine Bewegungen gesehen. Das sollte sich jedoch jetzt ändern, denn aus dem Augenwinkel sah xe, wie sich ein Objekt aus der Luft näherte.
Erschrocken fuhr Sew herum und sah sich von Angesicht zu Angesicht mit einer Drohne. Der geübte Blick zeigte gleich, dass sie kein Massenfabrikat war, auch wenn sie sich Mühe zu geben schien, das zu verbergen. Doch die Nähte, wo die äußeren Metallplatten sich auseinanderziehen konnten, um Sensoren oder Waffen herauszufahren, waren an ganz anderen Stellen, als xe es gewohnt war. Menschen, die nicht darauf geschult waren, so etwas zu entdecken, konnte mensch leicht damit in die Irre führen. Xe zweifelte keinen Moment daran, dass es genau diese Drohne war, auf die xe gewartet hatte.
„Schön, dass du gekommen bist.“
„Worum geht es hier?“
Viel Freizeit hatte xe nicht. Sew hatte den Job bei der Isis KG nur bekommen, weil xe einen ellenlangen Vertrag unterschrieben hatte, der xem unter anderem untersagte, einen Nebenjob zu haben - da das vom eigentlichen Streben nach Perfektion bei der Hauptarbeit ablenken würde. Dementsprechend hatte xe am Abend weitaus weniger zu tun als so gut wie alle Personen aus xes Nachbarschaft. Was aber nicht bedeutete, dass xe es sich leisten konnte, auf der faulen Haut zu liegen und Höflichkeitsfloskeln mit verdächtigen Drohnen auszutauschen.
Unbeeindruckt von xes Antwort, die in wohlhabenderen Kreisen wohl als extrem unhöflich gegolten hätte, kam die Person, die das Fluggerät steuerte, zur Sache: „Ich habe Beweis, dass Herr Sugimoto korrupt ist und Firmengeheimnisse weiterverkauft.“
Das überraschte xen so gar nicht. Die Ränkespiele der Führungsriege waren ein offenes Geheimnis, das im Unternehmensalltag im Augenwinkel störte, das aber auch niemensch offen anschauen oder, Gott bewahre, ansprechen wollte.
Natürlich hätte xe keinen Grund gehabt, ausgerechnet Sugimoto zu verdächtigen. Genauso gut hätte es jeder der Vorgesetzten sein können, und möglicherweise war dem auch so. Wer wusste schon, ob sich nicht alle bei irgendwelchen Konkurrenzunternehmen ein kleines Taschengeld dazu verdienten. Ob sie wohl den gleichen Vertrag unterschrieben hatten, der Nebentätigkeiten verbot? Nicht, dass das einen Unterschied gemacht hätte.
„Und warum kommst du damit zu mir?“, warf xe schnell ein, bevor der Fremde noch versuchte, an xes Ehre oder etwas ähnlich Unnützes zu appellieren.
„Weil ich es nicht riskieren kann, dass etwas schiefgeht. Wenn herauskommt, dass ich etwas mit der Sache zu tun habe, bekomme ich Schwierigkeiten.“
„Also brauchst du ein Bauernopfer“, stellte xe fest, „Jemensch, der ruhig als Sündenbock genutzt werden kann, falls sich Sugimoto irgendwie aus der Affäre zieht.“
„Ja. Aber falls es ihm nicht gelingt, wirst du auch die Person sein, die die Belohnungen einstreicht.“
„Was soll ich denn mit den Beweisen tun? Es ist ja nicht gesagt, dass Sugimotos Kolleg:innen nicht mit ihm unter einer Decke stecken.“
„Deswegen sollst du mit den Beweisen auch nicht zu einer gleichgestellten Person gehen, sondern zu seinem Vorgesetzten.“
Über ihm gab es nur noch eine Person: Den CEO, den xe niemals in xes Leben zu Gesicht bekommen hatte, und den xe auch niemals zu Gesicht bekommen würde. Mit Personen an dem Ende der Nahrungskette hatte er nichts zu tun, er zeigte sich ja angeblich nicht einmal in der Öffentlichkeit.
„Soll ich in sein Büro einbrechen oder was?“
„Du sollst die Beweise im Unternehmensgarten platzieren. Und damit du Zugang zu ihm bekommen kannst, müssen wir dich einige Ränge nach oben befördern. Auch dafür habe ich einen Plan.“
Besagter Garten war das Prachtstück des Gebäudekomplexes. Er lag in seiner Mitte, von den Wolkenkratzern umgeben, eine gigantische Glaskuppel, in der sich die Lichter von tausenden von Bürofenstern spiegelten. Wie viel mensch von den grauen Türmen mit ihrem künstlichen Licht im Inneren des Gartens sehen konnte, wusste xe nicht. Nur, dass von außen die satten Grüntöne und bunten Farben der Blüten noch zu erahnen waren.
„Das hört sich ziemlich kompliziert an. Warum bist du nicht von Anfang an auf jemenschen zugegangen, der weiter oben in der Hackordnung steht?“
„Ich brauche eine Person, die nichts zu verlieren hat. Eine, die beim ersten Versuch zusagt, sodass nichts von dem Plan nach außen dringt. Diejenigen, die über dir stehen, werden solch ein Risiko nicht eingehen.“
Xe seufzte. Es war, als hätte der Fremde alle Einwände schon vorhergesehen und musste die vorgefertigen Antworten nur noch vom Band abspielen. Was das so frustrierend machte, war, dass diese Erläuterungen durchaus einleuchtend klangen.
„Wie lautet der Plan denn?“, fragte xe mit der Gewissheit, dass xe sich heillos in diesem Netz verfangen und keine andere Wahl mehr hatte, als zuzustimmen.
„Du wirst dem CEO persönlich auffallen müssen, um von deinem Platz aus jemals aufsteigen zu können. Ich...“
An der Stelle musste Sew die Stirn runzeln und unterbrach: „Wenn ich ihm eh schon persönlich auffalle, warum überreiche ich ihm diese Beweise nicht dann schon einfach?“
Die Band-Antwort kam prompt: „Es darf nicht klar sein, dass sie von dir sind. Sonst kommen Fragen auf, woher du sie hast und wenn klar wird, dass du die genaue Quelle nicht kennst, wird sich Sugimoto mit Leichtigkeit herausreden können.“
„In Ordnung, fahr fort.“
Trotzdem blieb ein Widerhaken in xes Hirnwindungen stecken. Ein leichter, nagender Zweifel. Doch xe wollte sich erst anhören, was der Fremde xem zu bieten hatte.
„Der CEO ist todkrank. Er wird nicht einmal den Schulabschluss seiner Tochter mehr erleben, wenn die Ärzte mit ihren Prognosen recht haben. Wir werden ihm das ermöglichen.“
„Hast du nicht nur Antworten auf alle Fragen, sondern auch ein Wunderheilmittel parat oder wie?“
„Sozusagen. Wir werden die Zeit, die ihm fehlt, einfach tauschen. Dafür brauchen wir einen Freiwilligen.“
„Ein Menschenopfer?“
Bisher hatte xe sich selbst für die Person gehalten, die auf den Altar gefesselt würde, wenn ein zorniger Gott nach Rache dürstete. Vielleicht war Sew aber eher Priester:in mit einem scharfkantigen Dolch in der Hand und einem Gebet auf den Lippen.
„Ein freiwilliges. Sonst funktioniert es nicht.“
„Esoterik“, war xes vernichtendes Urteil.
„Nein, moderne Technik.“
Zum ersten Mal hatte xe das Gefühl, den Fremden aus der Reserve zu locken. Gleichzeitig verspürte Sew eine Art Erwachen, als xem auf einmal bewusst wurde, dass sie diese Diskussion immer noch auf dem Unternehmensparkplatz führten. Glücklicherweise schien sich keine der Personen in ihrer Umgebung für sie zu interessieren, obwohl es reichlich ungewöhnlich war, dass sich eine Person so lange mit einer Drohne unterhielt. Vielleicht gingen sie einfach davon aus, dass xe sich um ein Parkticket stritt, das die Drohne xem gerade aufgedrückt hatte.
„Der Unterschied ist längst verloren gegangen.“
„Und doch arbeitest du, wo du arbeitest.“
„Weil ich keine andere Wahl habe“, sprach xe das Offensichtliche aus.
Einmal mehr wurde klar, dass der Fremde irgendwo aus der Führungsriege kommen musste. Sonst hätte xe das nicht erklären müssen.
„Hast du die denn jetzt?“
Sew verstummte, als die Bedrohlichkeit der Situation wie eine Welle über xen hereinbrach und das Kartenhaus mit einem ohrenbetäubenden Knarzen und Krachen in sich zusammenfiel. Obwohl die Drohne leicht fortschrittliche Waffensysteme versteckt haben konnte, ging von ihr selbst keine wirkliche Gefahr aus, toter Kamerawinkel hin oder her. Es war mehr das Gefühl, sich der Sackgasse, in der mensch steckte, vollends bewusst zu werden. Xes Schicksal hatte schon vor xes Geburt damit angefangen, xen in diese zu manövrieren.
„Ich verstehe. Aber wie soll ich eine Person finden, die ihr Leben einfach so wegwerfen will?“
„Davon gibt es mehr als genug.“
„Ich habe das falsch ausgedrückt. Zwischen wollen und tun besteht ein großer Unterschied.“
„Ich denke trotzdem, das du das hinbekommen wirst.“